Die Chroniken von Harm Alkema

Harm und der Hexenwald (Elbstein 1)

Ein namenloses Dorf irgendwo im Altreich

Septimus, Anno Propheti 1628

Voller Sorge horchte die alte Frau in die Nacht hinaus und zog ihre Enkelin näher zu sich heran. Marie zitterte. Kein Wunder. Hier unten in der Dunkelheit des Verstecks war es kalt und nass, und von draußen hörten sie Schüsse und Geschrei.

Sanft streichelte sie Marie über die langen Haare. Sie waren schwarz wie Pech, genauso wie die ihres Sohnes, und die Alte sah, wie der Pfarrer Marie immer öfter mit nachdenklicher Miene musterte. Schwarze Haare waren wie Stricke, an denen der Teufel den Menschen ins Denken klettern konnte; so stand es in der Heiligen Schrift.

Sie seufzte. Ihr Nichtsnutz von einem Sohn hatte dem Kind wirklich nur Ärger hinterlassen.

„Zeit für eine Geschichte“, flüsterte sie

 

Erleichtert entspannte sich Marie ein wenig. Sie liebte es, wenn ihre Großmutter ihr eine Geschichte erzählte. Meist kamen alle Kinder des Dorfes zusammen, um ihr zuzuhören, wenn sie sich abends neben den Brunnen setzte. Sie wusste alles, denn sie war die älteste Frau im Dorf, und die Leute sagten, dass sie sich noch an die ganz alten Zeiten erinnerte.

 

„Weißt du“, begann die Großmutter, „es ist ganz normal, dass du Angst hast. Da draußen, das ist wirklich schlimm. Aber es geht immer noch schlimmer. Deshalb erzähl ich dir heute mal von Drachenschnitt und Elbenturm.“

„Die Geschichte hast du noch nie erzählt“, flüsterte Marie aufgeregt.

„Ja“, sagte die Großmutter. „Ich habe sie mir wohl für ganz besondere Momente aufgehoben.“

Vorsichtig schob sie sich ein wenig näher heran, bis ihre Lippen beinahe das Ohr ihrer Enkelin berührten, und strich ihr weiter beruhigend über die Haare. Drachenschnitt und Elbenturm, also … Eine Geschichte aus der Zeit, als noch die Elben herrschten. Zuletzt hatte sie sie ihrem Sohn Franz erzählt.

Er hatte sie geliebt. Vermutlich, weil es um den Krieg zwischen den Elben und den Drachen ging. So etwas hatte ihm immer gefallen.

 

„Also gut“, begann sie und sprach die alte Formel: „Es war einmal ein kleines Dorf. Es lag am Ufer des mächtigen Graum, ungefähr dort, wo heute die große Stadt Elbstein liegt. Manche sagen, dass Elbstein sogar genau aus diesem Dorf entstanden ist. Doch das ist eine andere Geschichte.

Die Menschen in dem Dorf waren Frisii, und ihre Häuser waren anders als unsere. Sie waren in die Erde gegraben, wie halbe Keller, auf die man ein Dach setzt. Und sie hatten keine Stuben und Ställe. Sie hatten nur ein großes Zimmer, auf der einen Seite für das Vieh und auf der anderen für die Menschen. In einem dieser Häuser – im größten des Dorfes, denn es gehörte dem Häuptling – lebte ein kleines Mädchen. Es hieß Marie. Genau wie du. Zuerst jedenfalls. Denn später nannten die Menschen sie Drachenschnitt. Schscht, noch nicht.“ Lächelnd legte die Großmutter Marie einen Finger auf die Lippen. Natürlich horchte die Kleine auf. Jeder kannte die Heldin Drachenschnitt. „Zuerst war sie nur Marie, die jüngste Tochter des Häuptlings.“

„Wie sah sie aus?“, fragte Marie. „Wie alt war sie?

„So alt wie du. Zehn Jahre. Sie hatte aber blondes Haar, und meistens war sie sehr, sehr schmutzig, weil sie sich noch weniger gern wusch als du.“

Marie lachte.

„Still.“ Erschrocken hielt die Alte ihrer Enkelin den Mund zu. „Wir müssen leise sein. Sonst finden die uns noch. Leider“, fuhr sie flüsternd fort, „mussten Marie, ihre beiden älteren Schwestern und ihre Mutter oft Hunger leiden. Denn ihr Vater, ihre beiden Brüder und die anderen Männer des Dorfes waren fort. Und so war niemand da, der mit den Fischerbooten hinausfuhr oder im Moor die Vögel jagte.“

„Gab es denn kein Brot?“, fragte Marie jetzt leiser.

„Nein“, sagte die Alte. „Das Land taugte nicht für Roggen, Gerste oder Dinkel. Du weißt doch. Die Frisii sind keine Bauern wie wir. Die haben nur Schafe, Fische und die Jagd.“

Marie nickte. Seit sie einmal einen wandernden Frisii-Trödler in einer der Wolldecken gesehen hatte, hörte sie immer genau zu, wenn sie ihr von dem seltsamen Volk erzählte, das Oldemoor an der Küste des Nordmeers lebte.

„Aber das Schlimmste war, dass die Kobolde alle ihre Schafe weggefressen hatten.“

„Kobolde?“, fragte Marie leise. „So einer, wie der Nickelmann, der in die Scheune eingezogen ist, als der Pfarrer anfing, die neue Lehre zu predigen?“

„Nein, nein“, flüsterte die Alte. „Der alte Muck, der ist unser Freund. Mit ein wenig Milch hier und da ist er zufrieden. Und weil er weiß, dass wir gerade nichts haben, nimmt er es uns auch nicht übel, dass wir ihm nichts hinstellen. Außerdem sollst du das mit dem Pfarrer doch nicht sagen. Nein. Die Kobolde in dem Dorf, die waren anders, nicht so gutmütig. Wie Zwerge lebten sie unten in der finsteren Erde und kamen nur heraus, um die Menschen zu quälen. Damals gab es die Kirche Gottes ja noch nicht. Da ging so was noch. Der Drache, der über das Dorf herrschte, hatte sie geholt. Sie sollten auf seinen Schatz aufpassen, während er weg war.“

„Ein Drache?“ Jetzt war Marie endgültig gebannt.

„Unterbrich mich doch nicht immer“, sagte ihre Großmutter, „Ja, ein Drache. Er lebte in einer Höhle nicht weit vom Dorf, und der Häuptling und seine Männer mussten ihm zu Diensten sein. Bevor die ersten Missionare kamen und die Heiden bekehrten, war das an vielen Orten so. Du weißt ja, nur eine Kirche und eine gesegnete Glocke können die Menschen vor Unholden und Drachen bewahren.“

Auf einmal knarzten über ihnen die Dielen, und Marie wollte schon erschrocken aufschreien, doch ihre Großmutter hielt ihr wieder den Mund zu.

Marie spürte, wie ihr Staub aufs Gesicht rieselte, und erstarrte. Mit aller Macht unterdrückte sie einen Niesreiz.

 

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