„Der Schädel des Varus“

Foto: Linda Eastwood

Kapitel 1

N’Abend, Fremder. Der Platz da, ist der noch frei? Ich weiß, die Raststätte ist praktisch leer, und Sie fragen sich jetzt, warum will sich dieser gutaussehende Typ in dem formschönen Trainingsanzug ausgerechnet direkt neben mich setzen?

Na, die Lastwagenkutschern da hinten, sehen aus, als wollten sie lieber allein bleiben, und Sie machen den Eindruck, als seien Sie jemand, der ein wenig Freundlichkeit zu schätzen wüsste. Vor allem aber bin ich einfach ein geselliger Typ.

Also? War das ein Nicken? Wunderbar. Vielen Dank. Sie sind schon ein wenig schweigsam. Macht nichts, ich werde Sie schon noch auftauen. Darf ich trotzdem schon einmal von Ihrem Kaffee nippen? Ich bin gerade etwas knapp bei Kasse. Nicht meine Schuld. Aber den Göttern sei Dank gibt es ja noch Menschen wie Sie, die nichts dagegen haben, einem unschuldig in Not geratenen Alben einen Gefallen zu tun.

Alben? Ja, tatsächlich. Sie haben sicher schon von uns gehört. Glauben Sie bitte nur die Hälfte und machen Sie sich auf jeden Fall keine Sorgen. Ich bin einer von den Guten. Die anderen, die, vor denen man sich in Acht nehmen sollte, sind kleiner, bärtig und insgesamt eher unfreundlich. Doch wo sind meine Manieren. Ich rede und rede, trinke Ihren Kaffee, sitze an Ihrem Tisch, und nachher werden Sie mich mitnehmen, in dem Opel, dem staubigen, der draußen steht. Das ist doch Ihrer, oder? Ich muss nämlich dringend nach Hamburg …

Natürlich nicht umsonst. Das ist nicht meine Art. Wer mir einen Gefallen erweist, bei dem revanchiere ich mich natürlich. Gold oder Silber habe ich aktuell ja keines, deshalb biete ich Ihnen eine Geschichte. Eine gute. Und mal ehrlich: Wenn es draußen dunkel ist, und sich die Toten in ihren Gräbern regen, dann gibt es doch wirklich nichts Besseres, als sich die Nacht mit einer guten Geschichte und ein wenig Magie zu erhellen.

***

Der Wind brauste kühl durch das heruntergekurbelte Fenster, und Johnnys Herz lachte, während er den Mustang durch die Nacht lenkte. Es war halb zwölf, er fuhr mit Hundertfünfzig über eine schmale Landstraße voller Schlaglöcher, neben sich die Liebe seines Lebens und es ging um Leben und Tod.

„Sie kommen näher“, flüsterte Anna und sah sich nach ihren Verfolgern um.

Mit einem Nicken drückte er seinen Fuß noch etwas fester auf das Gaspedal. Im seltsam rötlichen Licht des Mondes sausten Wiesen, Wälder und Moore vorbei. Hier gab es keine Ampeln oder Siedlungen. Nur schmale, schnurgerade Landstraßen mit bröckelndem Asphalt. Ginge es mit rechten Dingen zu, hätte Johnny die Grotes längst abschütteln müssen. Sein Ford war um einiges schneller als die schrottreifen Karren der Schweinezüchter.

Doch wenn man sich mit den Grotes anlegte, ging es selten mit rechten Dingen zu.  Offenbar hatten Ansgar und seine Jungs ausgerechnet heute Nacht etwas von dem ganz besonderen Zeug in ihre Tanks geschüttelt, das sie auf ihrem Hof aus Diesel, Schweinegülle und purer Magie zusammenbrauten. Jedenfalls hielten sie locker mit und hatten reichlich Gelegenheit, ihre Schrotflinten zu nutzen.

Man konnte ihnen nicht mal einen Vorwurf machen. Wer ließ sich schon gern seinen Familienschatz stehlen? Und selbst wenn es ihnen nicht vermutlich ohnehin egal wäre, würde sie hier auch niemand rumballern hören. Hier gab es kilometerweit keine Dörfer, und die Menschen in den wenigen Höfen schliefen um diese Zeit tief und fest.

Zum wiederholten Mal zuckte Anna erschrocken zusammen, als Schrotkugeln über den Lack des Mustangs kratzten. Längst war die Heckscheibe von Sprüngen übersät. Am Horizont tauchte die riesige, rote Scheibe des Mondes die Landschaft in ein unwirkliches, fahles Licht, bei dem er sich vor den Grotes nicht verstecken konnte. Geschwindigkeit war jetzt alles, und Johnny war entschlossen, seinen Fuß auf dem Gas zu lassen.

Raimunds Zeit lief ab. Wenn die Hamburger nicht bis um zwölf die beiden Taschen im Kofferraum des Mustangs zu sehen bekamen, würden sie Johnnys Freund und seinem Mann eine Kugel in den Kopf jagen. So war das. Ihm blieb keine Wahl, er musste Ansgar los werden.

Ohne Anna hätte Johnny angehalten, und es ausgetragen. Er wusste zwar nicht, wie viele Grotes genau hinter ihnen her waren, aber er war sicher, dass er mit ihnen fertig würde.

Zwar waren die Grotes … speziell, aber Johnny war … spezieller. Kam es zu einem Kampf mit seinen Verwandten, würde es ziemlich wild zugehen. So wie der Mond da oben am Himmel aussah, würde Dinge geschehen, die Anna einfach nicht sehen durfte, und deshalb musste er Ansgar und seine Sippe eben einfach abhängen.

 

FORTSETZUNG FOLGT