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Prolog

Nur wenige Meter unterhalb des schneebedeckten Gipfels des Ben Nevis erhob sich eine alte Riesin mühsam auf ihre viel zu dünnen Beine Ein lautes Stöhnen entfuhr ihren rissigen, grauen Lippen, während sie sich den schmerzenden Rücken rieb. Die Schmerzen wurden immer schlimmer, bald würde sie sich einen neuen Spiegel suchen müssen, einen, den sie im Stehen nutzen konnte.

Mit einer gewaltigen Hand beschirmte sie ihre vom Alter halb erblindeten Augen vor der herbstlichen Sonne. Dann sah sie ein letztes Mal zu der flachen Vertiefung hinab, die sie selbst vor vielen Jahren mit dem Daumen in einen riesigen Felsen gemahlen hatte. Ihr Zauber war vergangen, nur noch einige Nebelschwaden erinnerten an seine Kraft, und alles, was das Wasser jetzt noch zeigte, war die beißend grelle Reflektion der Sonne spiegelte sich noch in dem Wasser, das sich bei der letzten Schneeschmelze inmitten der Mulde gesammelt hatte.

Ächzend griff sie nach ihrem Beutel. Von Jahr zu Jahr fiel es ihr schwerer, ihren gewaltigen Körper zu bewegen. Oft saß sie viele Tage lang an ihrem Lieblingsplatz und starrte traurig durch ihre schlohweißen Haarsträhen in das Land am Fuße des Berges hinab. Doch heute würde es keine Ruhe geben. Sie musste weit in den Osten reisen, nach Glenshee. Der Zauber hatte es offenbart. Ihre Anwesenheit war erforderlich.

Doch gleich nachdem sie ihre krummen Beine zu den ersten Schritten gezwungen hatte, zwang ihr ein Hustenanfall die erste Pause auf. Lange schüttelte es ihre hagere Gestalt, und im Tal ließ das Grollen vom Berg die Schafe unruhig werden. Doch als der Husten endlich Ruhe gab, spuckte sie noch einmal in das eisige Weiß zu ihren Füßen und ergriff mit einem unterdrückten Fluch ihren Stock, den Stamm einer Kiefer, den sie sich im Sommer zurechtgestutzt hatte.

„Männer und ihre Schwüre“, murmelte sie. „Aber das muss man ihm lassen. Mumm hat er. Muss mir was überlegen. Hält er sich dran, dann wird ’ne Belohnung fällig.“ Ein zufriedenes Schmatzen entrang sich ihrem zahnlosen Mund. „Ja, ’ne Belohnung. Was Besonderes.“

Abwesend kratzte sie sich die haarige Achsel, lachte bellend und zog ihr Kleid zurecht. Vor sehr langer Zeit hatten es die Frauen eines Volkes, das spätere Generationen als die Kelten kennen sollten, aus den Fellen weißer Hirsche genäht. Inzwischen war es zwar nur noch ein löchriger Lumpen, ausgefranst und stinkend – so sehr, dass sogar Bären erschrocken aus dem Winterschlaf hochfuhren, wenn die Cailleach an ihren Höhlen vorbeiging. Doch die Riesin trennte sich ungern von den Dingen. Sie war eine traditionsbewusste Frau.

Und so stimmte sie auf dem langen Marsch hinab ins Tal auch bald ein Lied an. Es gehörte sich so. Ein Lied für jeden Weg. So hatte man es ihr einst beigebracht und so hielt sie es noch immer. Also sang sie mit warmer, rauchiger Stimme das traurige Liebeslied, das ihr für den Anlass entsprechend schien, während hinter ihre tiefe Fußabdrücke von der Größe zweier erwachsener Männer nach und nach kleiner und kleiner wurden.

 

Kapitel 1

Fahrig rückte Nathaniel Grant seine Perücke zurecht. So würde es nicht funktionieren. Dem Gesicht, das ihm aus dem kleinen Spiegel in seinem Zimmer im oberen Stockwerk von Heathfield Manor entgegenblickte, war die Anspannung allzu deutlich anzusehen. Er schwitzte, und die rötlichen Flecken auf seiner Stirn verrieten deutlich, unter welchem Druck er stand. Wenn er sich heute Abend in dieser Verfassung zeigte, würde sein Plan nicht funktionieren. Bis vor einer Stunde war er einfach nur nervös gewesen. Aber seit er erfahren hatte, wer heute Abend als Überraschungsgast am Tisch sitzen würde, wusste er nicht mehr aus noch ein.

Verzweifelt fächerte er sich mit einigen seiner Konstruktionszeichnungen Luft zu und bemühte sich, endlich ruhiger zu atmen. Seine Zukunft mochte davon abhängen, welchen Eindruck er gleich hinterlassen würde.

Vor jener Reise, die er kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag von Glasgow in die Grafschaft Staffordshire angetreten hatte, war sein Lebensweg noch klar gezeichnet gewesen. Dann, vor einem Jahr zur Hälfte seiner Kadettenzeit beim Ingenieurskorps, hatte sich ihm ein Mann vorgestellt, der sich als Beauftragter des Kriegsministeriums entpuppte. Sein Anliegen war mehr als überraschend gewesen: Nathaniel sollte seinen Dienst aufgeben und eine Stelle als Assistent des weltberühmten Erfinders James Watt antreten.

James Watt! Bei Gott, der Mann war eine Legende.

Trotzdem hatte Nathaniel zunächst abgelehnt. Denn er war fest entschlossen, sich nicht vor dem zu drücken, was er als seine Pflicht empfand. Er wollte als Fähnrich der Königlichen Ingenieure gegen die französischen Heere kämpfen, die im Namen des schrecklichen Napoleon seit Jahren den Kontinent eroberten. Und ganz davon abgesehen hatte sein Großvater Malcolm MacDarmaid viel Geld für sein Leutnantspatent im Königlichen Ingenieurskorps bezahlt. Wie der alte Laird die erforderliche Summe aufgebracht hatte, war Nathaniel bis heute ein Rätsel. Aber er war fest entschlossen, es seinem Großvater zu danken, indem er tapfer gegen die Frogs kämpfte, bis sie und ihr tyrannischer Herrscher, Napoleon Bonaparte, endgültig bezwungen waren.

Doch der Fremde sprach mit der Autorität des Kriegsministers, und deshalb hatte Nathaniel natürlich keine Wahl gehabt, als nach außen hin seinen Dienst zu quittieren und die Assistentenstelle anzutreten. Auch jetzt noch brach es ihm immer wieder beinahe das Herz, wenn er daran dachte, wie sein Großvater die Nachricht aufgenommen haben musste. Er schuldete dem Laird so vieles, der nach dem Tod seines Sohnes, dessen Enkel zusammen mit seiner Schwiegertochter und deren Mutter auf seinem Gut in Glenshee aufgenommen und Nathaniel dort wie seinen eigenen Sohn erzogen hatte.

Dass es gute Gründe für seine Entscheidung gab, Gründe, die sein Großvater bestimmt gebilligt hätte, war ihm nur ein kleiner Trost. Denn er durfte ihm nicht sagen, worum es ging. Nur seine Mutter wusste Bescheid – das hatte er sich gegenüber Mr. Smith, dem Mann vom Kriegsministerium, ausbedungen. Sie im Unwissen über seine Motive zu lassen, hätte er niemals verwunden.

Ihre Antwort auf seinen Brief war schmerzhaft kurz gewesen. „Wenn du das wirklich tun musst, mein lieber Sohn“, hatte sie geschrieben, „dann bitte ich dich nur darum, stets an deine Mutter zu denken und eines Tages gesund zu ihr zurückzukehren.“ Tränen hatten die Tinte verwischt. Eine klare Botschaft. Sie wollte, dass er wusste, wie enttäuscht sie war, dass er sich dem Willen seine Großvaters widersetzte. Seine Mutter war eine fügsame Frau, die dem Laird Zeit ihres Lebens in Dankbarkeit verbunden war. Jene Gefühle, die Nathaniels Großvater und auch ihn selbst bewegten, und die am Ende den Ausschlag gegeben hatten, das Angebot anzunehmen, waren ihr fremd. Sie lebte nicht für die Rache. Und so war es eine grausame Fügung, dass der Laird seinen Enkel vermutlich mehr Verständnis entgegen gebracht hätte, als sie es jemals können würde.

Nie hatte sie ihm gegenüber ein Wort über jene Nacht verloren, in der sein Vater gestorben war. Vermutlich, um ihn zu schützen. Vielleicht weil sie es selbst nicht aushielt, sich an jene Nacht zu erinnern, die ihr den geliebten Mann, mit dessen Sohn sie noch unwissend schwanger war, genommen hatte. Nathaniel liebte seine Mutter so sehr, wie es ein Sohn nur vermochte, doch inmitten dieser Liebe war eine Dunkelheit rund um die Frage, warum sie den Verantwortlichen – den sie doch ganz genau kannte – nie beschuldigt hatte.

Ohne Emily Grant, Nathaniels Großmutter mütterlicherseits, hätte er all das nie erfahren. Ohne sie gäbe es zwar auch den Schatten nicht, der die Liebe zu seiner Mutter verdunkelte, doch Nathaniel würde seiner Großmutter trotzdem ewig danken, denn durch sie wusste er, wie sein Vater gestorben war. Nur dank der alten Frau wusste er, wen er zu hassen hatte.

Es war acht Monate vor Nathaniels Geburt geschehen, ein wütender Mob selbst ernannter Bürger hatte seinen Vater zu Tode geprügelt. Damals hatte Edmund Grant als Leutnant in der Garnison von Dundee gedient, als es in verschiedenen Städten Schottlands zu Aufständen gekommen war. Aufgewiegelt durch Agitatoren, die dem schottischen Rechtsanwalt Robert Muir und einem französischen Provokateur folgten, hatten drei Jahre nach der französischen Revolution irregeleitete Fanatiker versucht, den Kampf gegen die Herrschaft von Adel und Klerus auch in Schottland zu entfachen. Seine Großmutter hatte ihm davon erzählt. Der Mob hatte selbst dann noch mit Knüppeln auf seinen Vater eingeschlagen, als dieser längst schon reglos im Schmutz lag.

„Ich will, dass du weißt, was damals geschah“, hatte Emily Grant ihre Geschichte begonnen. Sie war eine harte Frau mit Stahl in den Augen, und wenn sie ihm von jener Nacht erzählte, hatten sich ihre gichtigen Finger stets ganz fest um den Griff des Dolches an ihrem Gürtel geschlossen, den Dirk ihres toten Sohnes. Seit sie ihn in jener Nacht an sich genommen hatte, trug sie ihn bei sich. Ihre Knöchel waren weiß hervorgetreten, so fest hatte sie die Waffe umklammert. Ihre Stimme war leise gewesen, wie Würmer waren die Worte zäh aus ihre Mund gekrochen und hatten sich doch tief in Nathaniels Fantasie gegraben: Der blutige Körper in der roten Uniform, darüber der Baum der Freiheit, den die Aufständischen errichtet hatten, und der junge Mann, der dem Mob den Weg gewiesen hatte und der es sich nicht hatte nehmen lassen, den reglosen Leichnam des jungen Offiziers zu bespucken.

Heute lag seine Großmutter schon lange auf dem Friedhof von Glenshee begraben. Doch der Dolch von Edmunt Grant wartete. In ein Tuch gewickelt, lag er in der Truhe neben Nathaniels Bett.

Der Klang der Glocke riss ihn aus seinen Gedanken, das Abendessen war angerichtet. Vor Angst und Aufregung förmlich gelähmt, stand er nur da und lauschte seinem eigenen Herzschlag. Dann presste er sich mit aller Kraft seine Fingernägel in die Handflächen. Der Schmerz half. Nathaniel atmete tief durch. Gleich würde er dem Mann gegenüberstehen, der seinen Vater mit einem Fingerzeig den Aufständischen und ihren todbringenden Knüppeln ausgeliefert hatte.